Was ist so schlimm an Traurigkeit?
Am Montag war ich mit meiner kleinen Tochter bei der Schulärztin. M. wird im Sommer eingeschult und daher war dies ein Pflichttermin. Genau wie neulich die U9 beim Kinderarzt und die Schulreifeprüfung in der zuständigen Grundschule sowie das umfangreiche Aufnahmeverfahren der Schule in freier Trägerschaft, auf die sie gehen wird. Wie jedes Mal war sie aufgeregt und hat sich gefreut, zeigen zu dürfen, was sie schon alles kann.
Zunächst gingen wir in das Zimmer der Untersuchungshelferin, die ein paar standardisierte Tests mit ihr durchführte. Gleich nachdem M. einen Menschen malen sollte (wie schon bei sämtlichen oben erwähnten Untersuchungen zuvor), legte die freundliche junge Frau ihr einen A4-Zettel vor, auf dem in langen Reihen Gesichter aufgedruckt waren, ähnlich wie Emoticons. Sie zeigte auf ein lächelndes Gesicht und fragte, wie dieser Mensch gucke und M. sagte erwartungsgemäß „fröhlich“. Das Gesicht daneben mit den heruntergezogenen Mundwinkeln bezeichnete M. als „unfröhlich“. Nun nahm die Untersuchungshelferin einen Bleistift und machte energisch einen Strich durch das „unfröhliche“ Gesicht, wobei sie munter erläuterte: „Wir wollen ja hier gute Laune haben und deshalb streichen wir die traurigen Gesichter einfach alle durch!“ Meine Tochter sah sie aufmerksam an und ich fühlte einen Stich im Herzen. M. sollte nun zur Probe bei einer Reihe von Gesichtern die Traurigen durchstreichen. Sie fing zaghaft an, strich aber die Fröhlichen durch und wurde von der Helferin darauf hingewiesen, dass dies nicht richtig sein. „Nein, wir wollen doch die GUTE Laune haben! Du musst die Traurigen durchstreichen!“ insistierte sie, radierte die falschen Striche durch und demonstrierte noch einmal mit Nachdruck, wie es richtig gemacht werden sollte. Meine Tochter fing noch einmal von vorne an und ich holte tief Luft und ließ meinen Blick durch den Raum wandern, um mich von dem beklemmenden Gefühl abzulenken, das sich in mir ausbreitete. Nachdem meine Tochter gezeigt hatte, dass sie die Aufgabe verstanden hatte, sollte sie 30 Sekunden lang so viele traurige Gesichter wie möglich finden und durchstreichen. Offenbar war dies eine Aufgabe, um die Konzentrationsfähigkeit zu testen. Sie hat 17 geschafft und damit auch bei diesem Test der Norm für Schulanfänger genügt.
Ich will jetzt nicht den Sinn oder Unsinn solcher Prüfungsverfahren diskutieren und auch nicht das staatliche Schulsystem. Was mich den ganzen Tag über beschäftigt hat ist meine Beklommenheit, als die „unfröhlichen“ Gesichter durchgestrichen werden sollten. „Was ist so schlimm an Traurigkeit?“ frage ich mich. Warum ist die gute Laune ohne jede Frage das Normale, das Gute und Richtige? Warum ist die Traurigkeit nichts wert? Warum gilt sie nur als ein unnützer Zustand, den es möglichst schnell zu beseitigen gilt? Warum sind wir bemüht, einen traurigen Menschen aufzuheitern und mit unserer guten Laune anzustecken? Warum ertragen wir Kummer und Trauer, Grübelei und Introvertiertheit (dazu gibt es übrigens einen wundervollen TED-Vortrag von Susan Cain) bei anderen so wenig wie bei uns selber? Alles, was nicht locker, leicht und luftig ist wie ein Weißmehlbrötchen, sondern so schwer zu kauen und zu verdauen wie ein Stück trockenes Sauerteigbrot, ist verpönt. Krankheit, Tod und Unglück machen uns sprachlos und unsicher, da schweigen die Betroffenen lieber, als andere in Verlegenheit zu bringen.
Dabei schärft Traurigkeit die Sinne, so könnte man die Ergebnisse einer Studie australischer Psychologen zusammenfassen, die untersucht haben, wie Gefühle und Stimmungen das menschliche Verhalten beeinflussen (den Hinweis auf diesen Artikel verdanke ich übrigens Maximilian Buddenbohm). Sie erklären dieses Phänomen mit der Evolution: Wenn wir uns wohlfühlen und uns keine Sorgen machen, brauchen wir unsere Umgebung nicht so gründlich wahrzunehmen, da von ihr offenbar keine Bedrohung ausgeht. Sind wir jedoch bedrückt und nachdenklich, verarbeiten wir z.B. sprachliche Informationen mit mehr Sorgfalt, können uns genauer an Details erinnern und besser argumentieren. Das erklärt sicher auch, warum es oft die schwermütigeren Menschen sind, deren Kreativität und Kunst uns besonders berührt und beglückt. Sie haben nicht Probleme, weil sie Erfolg haben, sondern sie haben Erfolg, weil sie Probleme haben.
Ich wünschte oft, ich wäre eine fröhlichere Mutter für meine Kinder, vor allem für meine jüngste Tochter. Aber vieles von dem, was ich über mich und über das Leben gelernt habe, habe ich unter Tränen gelernt und nur deswegen. Ich bin dadurch nicht besser oder schlechter als andere Mütter, aber ich bin ihre Mutter. Meine Traurigkeit gehört zu mir und sie wird daher auch immer zu ihr gehören. Besser also, wir freunden uns mit ihr an!
Für G., der morgen Geburtstag hat.
Danke für diesen Eintrag und vor allem die letzten Zeilen. Irgendwo weiss mein Kopf, dass das alles wahr ist, aber vor allem zu letzerem fühle ich immer noch nur Schuldgefühle und ‚falsch-sein‘, die falsche Mutter..
In den Zeiten meiner Melancholie habe ich Gedichte geschrieben und Seidentücher bemalt und die Ergebnisse haben immer Menschen erfreut. Was soll dann jetzt genau schlimm sein an Traurigkeit? Danke für deinen tollen Beitrag, Nora! Vielleicht sind heute so viele depressiv, weil wir nicht lernen (konstuktiv) mit der Traurigkeit umzugehen. Und weil wir uns zu selten lange und ausgiebig umarmen und tief in die Augen sehen… Alles Liebe, Sylvia
Aus der zeitlichen Distanz betrachtet, habe ich aus den „traurigen“ Zeiten viel mehr gelernt als aus den Zeiten, wo es „gut lief“. Ich vermute ja, wie Menschen sind hier, um zu wachsen.
Das vermute ich auch!
Dieser Test mit den Emoticons ist ja relativ „neu“. Meine drei Großen hatten den nicht. Da wurde noch mehr wert auf das Nachklopfen eines Rhythmus gelegt.
Aber als mein Zwerg vor einem Jahr diesen Test gemacht hat, hat er konsequent nur eingekreist. Er lies sich nicht davon abbringen.
Eine Begründung lieferte er nicht, aber man lies ihn, hatte ich vorher ja schon mit der Diagnose gewinkt.
Wenn man mal die Kinder lassen würde, das wäre schön.
Diese Testerei ist schon eine Krux in sich. Und die „richtigen“ Fragen werden auch nicht wirklich gestellt.
Es wird nicht geschaut, was die Kinder daraus machen, sondern sie müssen „irgendeine“ (wer auch immer sich diese ausgedacht hat) Norm erfüllen.
Zum Thema Traurigkeit, schade, dass den Kindern suggeriert wird, dass es Trauer nicht geben „darf“. Sie verlieren dabei sehr viel.
Freude zu haben, ohne Trauer zu kennen, ist nichts wert.
Hi Nora!
Ehrlichgesagt finde ich, dass du Recht hast, auch wenn es Dir ja nicht um das Recht haben geht.
Ich persönlich möchte keine traurige Phase meines Lebens Missen. Selbst der schlimmste Kummer hat einen Sinn und Zweck.
Wer hoch fliegt, kann tief fallen. Wer tief gefallen ist, weiß das Glück besser zu Schätzen, wenn er wieder hoch fliegt. Das Leben ist voll von glücklichen und unglücklichen Momenten. Für mich gehört beides dazu.
Leben heißt: Sich in jede Krise und in alle glückliche Momente zu Stürzen! Das ist zumindest meine Meinung. 🙂
Danke für deinen tollen Post!
Viele Grüße
Hey, vielen Dank für deinen ersten Kommentar auf meinem Blog, Helmut!
Na, aber gerne doch!! 🙂
Anmerken würde ich an dieser Stelle dann noch Folgendes:
Ich weiß nicht, wie es dir gehen würde, aber bei dem Thema könnte zumindest ich ein Fass aufmachen, oder gleich ein Buch schreiben. 😉
Viele Grüße
Das geht mir genauso und ich denke, dass das zwischen den Zeilen auch durchklingt. Aber da das hier nicht das Thema sein sollte, habe ich es dabei belassen.
Liebe Nora,
ich mag deinen Blog, weil er sehr ernsthaft und ohne Umschweife zur Sache kommt. Traurigkeit ist tasächlich ein blinder Fleck in unserer Gesellschaft. Sie wird pathologisiert und eingehegt. Dabei gehört sie einfach dazu. Das wichtigste ist, dass niemand deinem Kind seine Gefühle abspricht – egal welche es hat.
http://www.rabeneltern.org/index.php/erfahrungsberichte-und-rabeneltern-tipps/elternsein-erfahrungsberichte/1484-na-wie-geht-es-uns-denn-heute-schlechte-laune-ist-erlaubt
LG
Nils
Lieber Nils,
danke für deinen Kommentar und den Link, dein Artikel passt wirklich gut zu meinem Thema. Tatsächlich kann es langfristig psychische Folgen haben, wenn Kinder immer wieder die Erfahrung machen, dass nur bestimmte Gefühle von ihren Bezugspersonen akzeptiert und die anderern schleunigst auf irgendeine Weise „beseitigt“ werden.
Lieben Gruss, Nora
<3 danke dafür
Es geht mir wie dir. Schon beim bloßen Lesen deines Textes empfinde ich großes Unbehagen. Das „wir wollen hier ja gute Laune haben“ erscheint wie eine Forderung und suggeriert, dass unfröhliche Kinder in der Schule nichts zu suchen haben.
Wunderbar. Da wird den Kleinen bereits vor der Einschulung geraten, sich eine gute Maske zuzulegen.
Solche Testaufgaben entstehen, wenn Erwachsene Kinder unterschätzen. Platt gesagt sind die traurigen Gesichter halt schlechter als die lustigen, und deshalb soll man sie durchstreichen. Blau und gelb wäre vielleicht noch „zu schwierig“ gewesen. Bloßes Kennzeichnen („welches von diesen Kindern ist heute traurig?“) ebenfalls. Das können Fünfjährige nicht. Weiß doch jeder.
Dass Vorschulkinder sehr wohl in der Lage sind, eine Wertung zu entschlüsseln und zu verinnerlichen, sollte eigentlich selbst auf dem Gesundheitsamt bekannt sein. Warum dann der Transfer zur Testkonstruktion nicht geklappt hat, wird wohl ein ewiges Geheimnis der Zuständigen bleiben.
Ich liebe diesen Text! Er zeigt, wie tief das von Dir beschriebene Unbehagen sitzen muss, dass wir meinen, es sogar in U- und Schuluntersuchungen den Kindern vermitteln zu müssen. Immerhin hat sich die Arzthelferin (das ist meistens die höchste Ausbildung bei diesen Untersuchungen, etwas, das ich kritisch sehe) das ja nicht selbst ausgedacht, sondern die Angaben und Vorgehensweisen kommen „von oben“. Da, wo irgendwelche Menschen sitzen, die denken, ihre Qualifikation könne „die Norm“ bestimmen. (Zu dem Thema Norm habe ich gerade einen Blogpost angefangen, zieht sich durch alle Bereiche …) Das ist mehr als einfach nur bedenklich. Umso wichtiger, dass es diesen Text und Dich als Mama gibt.
Vor ein paar Monaten hatten wir ein dazu passendes Erlebnis bei der J 1 der Großen. Da war die Frage: „Zu wie viel Prozent magst Du Dich?“, ich habe das Ganze hier verbloggt: http://www.junaimnetz.de/kinderweisheit
Als mir die Große diese Frage der Ärztin weitergab, ging es mir wie Dir. Ich fühlte mich allein ob der Fragestellung sehr, sehr unbehaglich. Du fasst hier gut zusammen, warum das das richtige Gefühl war. 😉
Hach, das freut mich jetzt sehr, vielen Dank, Juna!
Ja, ich denke den „Fachleuten“, die diese Tests erarbeiten, sollte bewusst sein, dass die Aufgaben nicht nur dazu dienen, eine „Norm“ zu erfassen (was schon fragwürdig genug ist), sondern dass sie auch in die andere Richtung wirken: Sie geben eine Norm vor. Und in diesem Fall nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Und das wirkt um so tiefer, je jünger die Testpersonen sind. Und dann werden die Tests auch noch von einer Ärztin (den zweiten Teil der Untersuchung hat eine Ärztin gemacht) in den Räumen einer Schule durchgeführt. Da kann man sich vorstellen, wie das auf ein fünfjähriges Kind wirkt.